Die heutige Etappe hat eine Länge von fast 32 Kilometern. Da unser Schnitt zwischen 2,5 und 4,5 liegt, rechnen wir mir einer Laufzeit von 8 bis 10 Stunden oder sogar mehr. Letztendlich können wir das nur grob abschätzen, da alles abhängt von Fitness, Wetter, Wegbeschaffenheit und Steigungen. Unser Frühstück gibt es aufgrund des Sonntags erst ab halb neun, wie können also erst neun Uhr starten, so dass es durchaus möglich sein kann, das wir erst 19 Uhr am Ziel eintreffen, da ist die Sonne zu dieser Jahreszeit bereits untergegangen.
Trotzdem gehen wir unser normales Tempo und drücken nicht auf die Tube, da wir wissen, dass 32 Kilometer eine lange Distanz ist.
Wir gehen die steile Zufahrt des Campingplatzes hinauf und sehen plötzlich nur höchstens zehn Meter von uns entfernt im Wäldchen links neben der Straße drei Rehe stehen. Sie schauen uns an und wir sie. Sie trauen sich nicht, sich zu bewegen, denn sie meinen wohl, dass sie so für uns unsichtbar sind. Wir trauen uns nicht, uns zu bewegen, denn sonst würden sie davonrennen. Ein seltener, nahezu magischer Moment, fast so wie im Film Stand by me.
Langsam hole ich mein Handy hervor und versuche Fotos von ihnen zu machen, doch sie rennen bereits elegant und geräuschlos durch das Unterholz, so dass die meisten Fotos recht verwackelt sind.
Bald lassen wir die letzten Häuser von Osmotherly hinter uns und links und recht von uns sind wieder Weiden mit grasenden Schafen und Kühen. Und vor uns können wir die Höhenzüge ausmachen, über die uns der Weg heute führen wird.
Es kommt langsam sogar die Sonne hervor und wir hoffen trotz des Wetterberichts auf einen sonnigen Wandertag, doch letztendlich sollte die Prognose leider recht behalten.
Immer wieder kommen uns Trailrunner oder Menschen, die ihre Hunde ausführen, entgegen, Wanderer mit Gepäck hingegen sehen wir nicht, bis auf einen, der uns nach circa zwei Stunden überholt.
Irgendwann geht es recht steil in einem Wald hinauf und wir erreichen wieder die Höhe, in der es hier nur noch Heide gibt, wo der sanft gewellte Boden mit Gras oder Heidekraut bewachsen ist. Hier können wir auch sehen, wo wir die nächsten Stunden entlangwandern werden, denn der Weg zieht sich an der Kante der Cleveland Hills entlang. Rechts von uns sind die Hügel mit den lieblichen Tälern dazwischen, und links die Ebene vor diesem Gebiet, wo an deren Ende bereits die Küstenlinie im Dunst auszumachen ist, und wir erkennen Middlesborough, die englische Partnerstadt meiner Heimatstadt Oberhausen.
Mehrmals erklimmen wir kleinere, steile Berge, nur um auf der anderen Seite wieder in ein Tal absteigen zu müssen. Einer dieser Gipfel ist im oberen Bereich recht felsig. Wir müssen uns sogar einige größere Blöcke hochziehen, während neben uns Kletterer mit Seil und dem ganzen Bimborium ihrem Hobby fröhnen.
Oben spricht uns eine Engländerin an und fragt, ob wir Clevelander oder Coaster seien (mit anderen Worten, ob wir den Cleveland Way oder den Coast to Coast Way wandern). Sie erklärt uns Weg, bis zu der Stelle, an der die meisten von ihrer Organisation abgeholt werden. Als wir sagen, dass wir weiter bis zum Lion Inn wandern, folgt eine ebenso detaillierte Beschreibung bis zu unserem Ziel plus der Empfehlung das Theakston Bier zu nehmen.
Wir erreichen die Straße, an der (nach der Engländern) die meisten anderen Wanderer von einem Taxi empfangen werden, und machen uns an den letzten Anstieg des Tages. Es ist bereits drei Uhr als wir oben ankommen und noch liegen zehn Kilometer vor uns. Doch 20 haben wir bereits geschafft und die fast 1000 Höhenmeter. Wir legen eine letzte Pause ein, dann folgen wir der Schotterstraße, die ab hier fast nur noch bergab bis zu unserem Ziel führt.
Mittlerweile haben wir immer mehr angezogen, denn nach dem morgendlichen Sonnenschein, hat es sich immer mehr zugezogen und ein starker und unangenehm kalter Wind kommt auf.
Die Schotterpiste ist zwar leicht und schnell zu bewandern, doch sie führt auch schnurgerade durch die Heide, und das ist auf Dauer monoton. Doch irgendwann taucht dann das Lion Inn auf dem nächsten Hügel auf, noch immer trennen uns fast zwei Kilometer, aber auch die sind irgendwann zurückgelegt.
Wir betreten den heimeligen Pub. Es ist schummerig, stark verwinkelt, überall sind kleine Sitzgruppen voller Leute, die alle ein Glas Bier vor sich haben. Die Durchgänge zwischen den zahlreichen Nischen sind so niedrig, dass wir uns bücken müssen. Die Mauern sind aus groben Natursteinen, die Decken werden von dunklen Balken gehalten.
Wir erreichen die Theke und checken ein. Um zu unserem Zimmer zu gelangen, müssen wir einen langen, verwinkelten Flur, der durch die verschiedenen Anbauten dieses alten Gemäuers führt, wobei jeder Bauabschnitt mit einer separaten Feuertür abgesichert ist. Irgendwann betreten wir unser sehr schönes, modernes und anscheinend frisch renoviertes Zimmer.
Wir duschen schnell, ziehen uns um und finden den Weg zurück zum Gastraum. Man weist uns den Tisch direkt am Fireplace zu. So wird uns nach der kalten, langen Wanderung schnell wieder warm. Das empfohlene Theakston schmeckt mir vorzüglich, doch Petra hat sich leider die Quencher-Variante bestellt, die irgendwie nach Essig schmeckt. Auch mit der Essensauswahl haben wir heute nicht so richtig Glück, denn mein Curry ist zu scharf und ihr vegetarisches Stroganoff hat einen seltsamen Nachgeschmack, dennoch ist ein schöner Abschluss eines anstrengenden Wandertages.